Cover
Titel
Wärter, Brüder, neue Männer. Männliche Pflegekräfte in Deutschland ca. 1900–1980


Autor(en)
Schwamm, Christoph
Reihe
Medizin, Gesellschaft und Geschichte – Beiheft 79
Erschienen
Stuttgart 2021: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
160 S., 5 SW-Abb., 2 Tab.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Richard Kühl, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Von einer Forschungskonjunktur wird man nach wie vor nicht sprechen können. Aber die lange Zeit als dröge und wenig ergiebig, überhaupt als etwas unwichtig angesehene Pflegegeschichte ist seit einigen Jahren auch in Deutschland angekommen. Der Historiker Christoph Schwamm demonstriert in einer mit Verve geschriebenen Kurzmonographie auf exemplarische Weise, warum diese Entwicklung wissenschaftlich ein großer Gewinn ist, und stellt blitzgescheite Fragen an eine Geschichte der Männlichkeiten zwischen 1900 und den 1980er-Jahren.

Das knapp 130 Textseiten umfassende Buch versteht sich als ein pointiertes Streiflicht, keineswegs als eine erschöpfende Spezialstudie. Es lässt sich wohl am zutreffendsten charakterisieren als ein mit neuen Quellenfunden angereicherter Literaturbericht, der zu weiterführenden Fragen anregen soll und den zugleich eine eigene konkrete Frage durchzieht. Das vorrangige Ziel der Studie ist es, die Vorgeschichte eines in der deutschen Krankenpflege seit etwa 20 Jahren als virulent gehandelten Themas historiographisch auszuloten: Angesprochen ist die Diskussion um eine gestiegene Präsenz von Männern in diesem, soi-disant, traditionell von Frauen geprägten Berufsfeld. Zu den Faktoren, die oft genannt werden, wenn es darum geht, diesen Trend zu erklären, zählen der kulturelle Wandel von Geschlechter- und insbesondere Männlichkeitsbildern in den vergangenen Jahrzehnten, politische Weichenstellungen wie zuletzt Gender-Mainstreaming-Programme oder die Forcierung von Anwerbemaßnahmen, die auf den immer massiver gewordenen Personalmangel in der Pflege reagierten.

Aber so einfach, das stellt Schwamm gleich eingangs klar, liegt die Sache keineswegs. Dies gilt bereits für die Annahme von einem erst in der jüngsten Vergangenheit anzusetzenden Umschlagpunkt. Dass Männer bis etwa 1850 in Pflegeberufen keineswegs eine bloße Randerscheinung waren, stellt medizinhistorisch zwar eine bekannte Tatsache dar. Jedoch hat sich erst die jüngere Forschung systematischer dafür zu interessieren begonnen, was neben der spätestens ab der Wende zum 20. Jahrhundert unbestreitbaren „Feminisierung“ des Berufs an von Männern mitgeprägten Teilbereichen weiterhin bestand oder neu hinzukam und welchen Veränderungen diese Segmente im Laufe der Jahrzehnte unterworfen waren.

Der Frage, warum und unter welchen Bedingungen der pflegende Mann in der modernen Medizin zur kulturellen Irritation wurde, geht die Studie am deutschen Beispiel mehr für die Vergangenheit als für die Gegenwart nach. Durchaus zentral für ihren Zuschnitt ist jedoch eine Beobachtung über die aktuelle Pflegesituation, die in der allgemein von Zustimmung über einen gestiegenen Männeranteil im Berufsfeld geprägten Diskussion oft unterschlagen wird: Männer durchlaufen in der Pflege heute nicht unbedingt Karrierewege, die sie als traditionelle Geschlechterrollenbilder infrage stellende Verfechter der Gleichstellung erscheinen lassen. Sie steigen in einem ungleich höheren Maße in Leitungsfunktionen auf oder füllen andere männlich codierte Positionen aus, die mit praktischer Sorgearbeit dann oft nichts mehr zu tun haben. „Männlichkeit“, so der Autor, wirke nachgerade als „universell wirksamer Repulsivstoff gegen pflegerische Tätigkeiten.“ (S. 11)

Methodisch greift Schwamm Ansätze auf, die zu den Schwerpunkten des 2020 in ein Archiv umgewandelten Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Stuttgart gezählt haben. Schwamm gehörte seit 2018 zu den letzten Mitarbeiter:innen dieser renommierten Einrichtung, deren Alleinstellungsmerkmal es in Deutschland war, als medizinhistorisches Institut nicht an eine Medizinische Fakultät angeschlossen zu sein. Eine Unterwerfung unter ein medizinisches Publikationsreglement bildete sich deshalb in Stuttgart wenig aus. Auch der Ausbildung eines klaren und originellen Forschungsprofils waren die strukturell einmaligen Bedingungen nicht abträglich. Im Kielwasser einer in den 1990er-Jahren innovativ konzipierten Sozialgeschichte der Medizin entstanden hier für den deutschsprachigen Raum wichtige Pionierarbeiten zur Geschichte der Pflege, der Männlichkeiten und der Sexualitäten. Von dieser institutionellen Einbindung hat das gut lesbare, erfrischend essayistisch gehaltene Büchlein erkennbar profitiert.1

Chronologisch gegliedert, widmet es sich am deutschen Beispiel zunächst den nach 1900 innerhalb der Pflege verbliebenen Residuen männlichen Personals bis in die Zeit der frühen Bundesrepublik und der DDR (Kap. 2 bis 4). Ein gesondertes Kapitel gilt den politischen Motiven und sozialen Realitäten, die hinter den damals in beiden deutschen Staaten getroffenen Entscheidungen standen, sich formal von einer Geschlechtertrennung im Pflegeberuf zu verabschieden (Kap. 5). Abschließend werden Dimensionen des Imagewandels pflegender Männer vermessen. Als Quellengrundlage stützt sich der Autor dabei neben Pflegejournalen und der allgemeinen Presse unter anderem auf aufschlussreiches Archivmaterial über Werbekampagnen der 1960er-Jahre (Kap. 6).

Eines der zentralen Ergebnisse der Studie wird frühzeitig benannt: Männliche Pflegekräfte, diese verschiedentlich geäußerte Vermutung kann Schwamm zu einer Gewissheit erhärten, waren zu keinem Zeitpunkt eine wirkliche Ausnahmeerscheinung. Es ist im Gegenteil von einem seit etwa 1900 relativ stabilen Anteil auszugehen, der sich auf rund 15 Prozent beziffern lässt. Umso mehr erscheint der Fokus der Darstellung auf eine Entwicklung gerechtfertigt, die in Westdeutschland mit dem Krankenpflegegesetz von 1965 an Fahrt aufnahm, in der DDR dagegen schon kurz nach ihrer Gründung 1949. Denn wenn auch phasenverschoben, handelte es sich in beiden Fällen um vom Gesetzgeber angestoßene Auflösungen von männlicher und weiblicher Pflege als schon im Grundsatz voneinander getrennte Sphären der Ausbildung – und potenziell auch der Laufbahnen –, was Unterschiede nicht nur im Hinblick auf berufsethische Prägeprozesse einzuebnen versprach, sondern auch am Anfang einer dahin aufrechterhaltenen Geschlechtertrennung im Bereich der berufspolitischen Selbstorganisation stand.

Es gehört zu den Verdiensten der Arbeit, auf engstem Raum einer Vielzahl von Nebenpfaden wie der Rolle ökonomisch relevanter Faktoren in der Rekrutierung männlichen Personals oder der Bedeutung der Kirchen als retardierendem Moment politisch oft erwünscht gewesener „Maskulinisierungen“ des Bilds vom männlichen Pfleger Platz einzuräumen. Klaren Fluchtpunkt der Analyse bildet jedoch die „Geburt des Unbehagens an Krankenpflegern aus dem Geist der Pflegereform“ (Kap. 6). In diesen Abschnitten finden sich auch die wichtigsten neuen Beobachtungen und Thesen. Hervorzugeben ist der Befund, dass Männer sich erst im Kontext der Pflegereformen im Berufsfeld als „Männer“ hätten rechtfertigen müssen: „Sie wurden“, heißt es pointiert über diesen einigermaßen plötzlichen, von außen evozierten und sich mit negativer Intention auf der Ebene geschlechtlicher und sexueller Zuweisungen abspielenden Imagewandel, überhaupt „erst queer, als die […] Trennelemente wegfielen.“ (S. 109)

An dieser Entwicklung Ende der 1960er-Jahre aber hätten nicht allein die zeitgleich einsetzenden Diffamierungen von in Pflegeeinrichtungen tätig werdenden „Kriegsdienstverweigerern“ Anteil gehabt, wenngleich homophobe Bilder vom Pfleger der Studie zufolge tatsächlich erst für diese Zeit belegbar sind. Daneben, gibt Schwamm künftiger Forschung als Problem mit auf den Weg, war es im Umfeld der westdeutschen Pflegereform durch Werbefeldzüge nach dem Vorbild der „Schwester Karin“-Kampagne (1965) zur einer massiven Sexualisierung weiblicher Pflegekräfte gekommen, was den geschilderten Imagewandel des Krankenpflegers in dieser Zeit nicht weniger entscheidend erklären könne.

Umso mehr dürften diese Beobachtungen der allgemeinen zeithistorischen Geschlechterforschung Anknüpfungspunkte bieten. Denn in dieselbe Richtung weist, wie wenig entgegen einer landläufigen Lesart – hier kommt die Studie zu recht eindeutigen Ergebnissen – das Pflegepersonal selbst als Vorhut einer genderfluiden Grenzüberschreitung einzuordnen ist. So nahmen die Zivildienstleistenden der „68er“-Generation mitnichten die von konservativer Seite pejorativ zugeschriebene Rolle eines kulturellen „Cross-Dressings“ positiv umgedeutet an. Und auch der in den späten Jahren der alten Bundesrepublik häufiger werdende Eintritt von Männern ins Berufsfeld ging bereits merklich mit der Marginalisierung von Frauen in Führungspositionen einher, was sich bis in die Gegenwart fortsetzt.

Dem abschließenden Urteil, es lasse sich für die Betrachtungszeit bis 1980 „nur bedingt“ sagen, „dass sich sozial erwünschte Männlichkeit und professionelle Sorgearbeit wechselseitig abstoßen“ (S. 143), wäre gleichermaßen weiter nachzugehen, zumal bei alldem der Eindruck erklärungsbedürftiger Kontinuitäten bleibt. Besonders sticht dies beim Blick auf eine seit dem 19. Jahrhundert überproportionale Präsenz von Pflegern in Urologie, Dermatologie/Venerologie und Psychiatrie ins Auge, wo die Tätigkeitsprofile offenkundig zu keinem Zeitpunkt als „unmännlich“ wahrgenommen wurden, die kulturellen Gründe dafür aber spezifisch gelagert gewesen sein dürften. Zweifel wiederum sind anzumelden bei einigen vielleicht als zu markant herausgestellten Bruchstellen. So hält die Forschung zum Ersten Weltkrieg Beispiele einer hochgradigen Sexualisierung weiblichen Pflegepersonals bereit, und entgegen der Einschätzung, dass „die Verrichtung von Sorgearbeit durch Männer vor den 1960er Jahren [nicht] als ‚Cross-Dressing‘ gedeutet wurde“ (S. 141), weisen zeitgenössische Äußerungen aus der Transvestitismus-Forschung des Kaiserreiches darauf hin, dass auch solche Zuweisungen wohl schon älteren Datums sind. Anders dürfte sich jedenfalls kaum erklären, warum der Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld preußische Behörden im Jahr 1915 ohne Weiteres davon überzeugen konnte, dass freiwillige Meldungen von Transvestiten zur Kriegskrankenpflege nicht als Ausdruck von „Drückebergerei“ zu werten seien, sondern als Engagement, das ihren „weiblichen“ sozialen Besonderheiten entspreche.2

Insgesamt hat man es bei Christoph Schwamms Studie mit einer Gelegenheitsarbeit im besten Sinne des Wortes zu tun, mit einem gleichermaßen fundierten wie gedankenreichen Problemaufriss, der seinen Gegenstand nicht zu schnell vom Haken lässt und in dem die jahrzehntelang gewachsenen Zugänge der Stuttgarter Medizingeschichte noch einmal weiterführend zusammenkommen. Wer im Vorfeld der Schließung bzw. Umwidmung des Bosch-Instituts befürchtet hatte, dass man die Vorzüge einer von den Medizinischen Fakultäten institutionell unabhängigen Medizinhistoriographie noch einmal vermissen würde, kann sich mit diesem Buch bestätigt sehen.

Anmerkungen:
1 Siehe zuvor auch Christoph Schwamm, Irre Typen? Männlichkeit und Krankheitserfahrung von Psychiatriepatienten in der Bundesrepublik, 1948–1993, Stuttgart 2018; rezensiert von Viola Balz, in: H-Soz-Kult, 19.04.2019, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-27853 (21.08.2021).
2 Vgl. Rainer Herrn, Schnittmuster des Geschlechts. Transvestitismus und Transsexualität in der frühen Sexualwissenschaft. Mit einem Geleitwort von Volkmar Sigusch, Gießen 2005, S. 93, S. 96.

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